Klassische Parteienklischees sind überholt. Was für CDU und SPD schon lange gilt, macht bei der Linkspartei nicht halt. Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion, ist weiterhin für einen Ausstieg aus der NATO, plädiert aber für mehr Personal bei der Polizei. Mit NITRO sprach er über die die Einführung des Mindestlohns – denn den verbucht er als Erfolg seiner Partei – und das bedingungslose Grundeinkommen sieht er kritisch.
? Bundestagswahl 2017. In den Umfragen liegt die Linke seit Ende Juli zwischen acht und neun Prozent. Das war schon mal weniger. Werden Sie Ihr Ziel, zweistellig zu werden, erreichen?
! Ja. Für die Menschen in Deutschland und Europa wäre es gut, wenn die Linke zweistellig wird. Das Ziel ist realistisch. Die Ausgangssituation ist gut, aber Umfragen sind keine Wahlergebnisse.
? Trotzdem die Frage, wie wollen Sie es erreichen?
! Mit einem guten Programm und glaubwürdigen Personen. Beides hat die Linke. Außerdem haben wir klare Kommunikationslinien. Die Linke ist die einzige Partei, die eindeutig sagt: Wir wollen die Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht verlängern, von uns wird es im nächsten Bundestag für sie gesichert keine Stimme geben. Die Politik, die seit zwölf Jahren gemacht wird, gefährdet erstens den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Zweitens wird das „Projekt Europa“, das zuerst ein Projekt des Friedens war, gefährdet. Schauen Sie sich die Situation seit Beginn der Kanzlerschaft Merkels an. Der Brexit, die Eurokrise, rechtspopulistische Parteien sind erstarkt, in den südeuropäischen Ländern gibt es eine erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit, die eine Generation der Hoffnungslosigkeit hervorbringt und, und, und.
? Aber daran ist nicht allein Angela Merkel schuld.
! Natürlich nicht. Aber die Politik, die Deutschland in den Jahren ihrer Kanzlerschaft verfolgte, hat die europäische Solidarität nicht gestärkt. Schäuble feiert die schwarze Null im Haushalt, erpresst andere Länder, aber die Menschen haben zu wenig davon.
? Als Spitzenpolitiker der Linken stehen Sie dem rot-rot-grünen Farbenspiel sehr offen gegenüber. Die Rheinische Post zitiert Sie: „Wir wollen regieren und die SPD zum Jagen tragen.“ Wie will die Linke das anstellen?
! Wenn man einen Politikwechsel will, muss man die Bereitschaft haben, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das ist unsere Position, und die wird von beiden Spitzenkandidaten, also Sahra Wagenknecht und mir, und von der Partei getragen. Fakt ist: Je stärker die Linke wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Mehrheit jenseits der Union gibt. Und je stärker die Linke ist, desto höher wird auch der Druck auf die SPD. In einzelnen Ländern, wo die Linke stark ist, gibt es erfolgreiche Mitte-Links-Bündnisse.
Bekämpfung von Kinderarmut im nächsten Koalitionsvertrag
? Ihre Co-Vorsitzende Sahra Wagenknecht hat auf dem Wahlparteitag ebenfalls eine Rhetorik der Jagd verwendet. Sie sagte: „Es geht darum, so stark zu werden, dass wir alle vor uns hertreiben können.“ Wann beginnt denn die Jagd?
! Wir sind mittendrin und wollen die Menschen überzeugen, denn am Ende hat der Souverän das entscheidende Wort. Wenn wir unser Ziel erreichen und zweistellig werden, wird sich von unseren Positionen etwas im Regierungsprogramm wiederfinden, egal wie die Regierungskonstellation aussieht.
? Was liegt Ihnen denn besonders am Herzen?
! Die Beseitigung der Kinderarmut! In der jetzigen Großen Koalition steht im Koalitionsvertrag das Wort Kinderarmut nur ein einziges Mal ganz am Rande. Bei über zwei Millionen Kindern, die von Armut betroffen sind, muss das aber ein sehr zentrales Thema sein. Ich bin mir sicher, dass die Bekämpfung von Kinderarmut im nächsten Koalitionsvertrag eine zentrale Rolle spielt – wer immer regiert. Außerdem darf man nicht vergessen, dass wir in den vergangenen Jahren als Opposition manches bewegt haben.
? Was genau?
! Die Linke hat zum Beispiel als erste um den Mindestlohn gekämpft. Am Ende hat sogar die Union zugestimmt. Das ist ein Erfolg von uns.
? Das verbuchen aber schon Frau Nahles und die SPD als ihren Erfolg.
! Fakt ist: Wir waren im Deutschen Bundestag die Ersten, die einen Mindestlohn gefordert haben. Die SPD und große Teile der Gewerkschaften haben ihn anfangs abgelehnt, die anderen Bundestagsparteien sowieso. Mir geht es am Ende nicht ums Copyright. Deutschland hat jetzt den Mindestlohn, und der ist für viele Menschen positiv, wenngleich er zu gering ist, etwa, um vor Altersarmut zu schützen. Dringend nötig wären vernünftige Einkommen und eine soziale Absicherung übrigens auch für Soloselbständige und Beschäftigte in der Sharing- und Plattform-Ökonomie.
Martin Schulz hat bei der SPD leider inhaltlich so gut wie nichts verändert
? Martin Schulz hat ein rot-rot-grünes Bündnis ausgeschlossen.
! Nein, Schulz hat kein Bündnis ausgeschlossen, er hat diese Frage offen gelassen. Ich finde das völlig richtig. In der letzten Sitzungswoche des Bundestages hat sich gezeigt, dass SPD, Linke und Grüne viel Positives hätten bewirken können. Die Ehe für alle wurde immerhin beschlossen. Ich sage Ihnen: Sollte es nach der Wahl eine Mehrheit jenseits der Union geben, wird die SPD mit uns reden.
? Mehrheiten muss man erst mal bekommen. Im Moment hat man nicht den Eindruck, dass es einen Wechselwillen gibt
! Es gibt viele, die sagen, Angela Merkel hat die Wahl gewonnen. Der Hype, den es um Martin Schulz gab, hat aber gezeigt: Es gibt im Land einen Überdruss an Merkel. Martin Schulz hat bei der SPD leider inhaltlich so gut wie nichts verändert. Viele wollen aber endlich wieder tatsächliche Alternativen. Weil vom Kanzlerkandidaten inhaltlich zu wenig kommt, fragen sie sich: Warum einen Wechsel? Dabei gibt es vieles, was er anpacken könnte.
Das Thema Umverteilung nur vage angedeutet
? Nämlich?
! Die SPD sollte den Mut haben, sich mit denen anzulegen, die riesige Vermögen besitzen. Die 500 reichsten Familien in Deutschland haben ihr Vermögen von 2011 bis 2016 von 500 Milliarden auf 692 Milliarden Euro gesteigert. Das ist obszöner Reichtum. Hierzulande werden Banken gerettet, Autokonzerne gehätschelt, nicht die kleinen Handwerksbetriebe. Da muss man den Mut haben und sagen: Das wollen wir so nicht fortsetzen. Schauen Sie sich den Skandal in der Autobranche an. Offensichtlich gelten Recht und Gesetz für einige weniger. Ingenieurskunst diente der Manipulation statt der Innovation, das ist doch unfassbar!
? Die SPD hat die Gerechtigkeit zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht und ist damit in Ihre Kernkompetenz eingedrungen. Worin unterscheidet sich die Gerechtigkeit der SPD von der Gerechtigkeit der Linken?
! Gerechtigkeit ist ein Wort, das alle Parteien verwenden, niemand tritt für Ungerechtigkeit an. Bei den Sozialdemokraten wird das Thema Umverteilung nur vage angedeutet. Die Vermögenssteuer wurde ersatzlos aus dem Parteiprogramm gestrichen. Wir hingegen wollen tatsächlich umverteilen und Superkonzerne zur Kasse bitten, die teilweise über Manipulationen extrem stark geworden sind. Für uns heißt Gerechtigkeit, dass Kinder nicht in Armut leben und alte Menschen keine Flaschen sammeln müssen. Die Renten müssen zukunftsfest gestaltet werden, die Zwei-Klassen-Medizin muss aufgelöst werden.
Die politischen Konkurrenten denunzieren uns oft
? Der Kanzlerkandidat der SPD ist für Sie in der Frage der Gerechtigkeit nicht glaubwürdig?
! Natürlich haben Martin Schulz und die SPD ein Glaubwürdigkeitsproblem, sonst hätten sie bei Landtagswahlen andere Ergebnisse.
? War Martin Schulz von vornherein der falsche Kandidat? Er kommt aus Brüssel, hat die Situation in Europa mit zu verantworten und will jetzt in der Bundespolitik alles anders machen?
! Martin Schulz stand in Europa für den Kurs von Jean-Claude Juncker, der all die Steuerschweinereien in Luxemburg mit zu verantworten hat. Auch hier hat Martin Schulz ein Glaubwürdigkeitsproblem.
? Sie fordern, den Sozialstaat in Deutschland wiederherzustellen. Heißt das, Ihre Zielrichtung ist der Sozialismus als ideale Gesellschaftsordnung?
! Kommt darauf an, was man unter Sozialismus versteht.
? Erklären Sie Ihre Variante.
! Die politischen Konkurrenten denunzieren uns oft und sagen, die Linken wollen Nordkorea. Das ist albern. Wir wollen, dass die Balance in der Gesellschaft wiederhergestellt wird. Die Gesellschaft soll friedlich, demokratisch und ökologisch sein und das Ziel eines demokratischen Sozialismus haben. Der Staatssozialismus der DDR ist nicht unser Gesellschaftsmodell. Der ist zu Recht gescheitert.
Die Linke wäre ohne Utopien keine Linke mehr
? Wie stehen die Linken zum bedingungslosen Grundeinkommen?
! Das bedingungslose Grundeinkommen würde bedeuten, dass die gesellschaftlichen Zustände und Verhältnisse umgekrempelt werden und alle Sozialsysteme völlig neu geordnet werden müssten. Obwohl ich kein Unterstützer des bedingungslosen Grundeinkommens bin, finde ich die Debatte darum sehr notwendig und wichtig.
? Sie wird auch gern als Utopie bezeichnet.
! Die Linke wäre ohne Utopien keine Linke mehr, aber meine kritischen Punkte überwiegen bei diesem Thema.
? Die Linke will aus der NATO aussteigen, dafür gibt es aber in Deutschland keine Mehrheiten. Warum sollte man das NATO-Bündnis verlassen und das Risiko eingehen, sich in Europa zu isolieren?
! Wir wollen die NATO umwandeln in ein System kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands. Die NATO wurde 1949 gegründet, damals gab es den Warschauer Vertrag, es war ein Gleichgewicht des Schreckens. Ich meine, die NATO hat sich in der jetzigen Form überlebt. Wir müssen uns Zukunftsfragen stellen: Wie kann die Sicherheit in Europa und in der Welt gewährleistet werden? Die NATO sollte kein Kriegsbündnis sein.
Zivilgesellschaft und die Opposition in der Türkei stärken
? Ein Friedensbündnis aber auch nicht.
! Warum sollte Europa nicht ein Kontinent des Friedens werden? Wir Linke setzen uns für Abrüstung ein. Die enormen Summen, die in Rüstung investiert werden, könnten in Bildung, für Kinder oder gegen Altersarmut eingesetzt werden. Außerdem ist die NATO schon hochgerüstet. Deshalb plädieren wir nach wie vor für Abrüstung und nicht für eine Erhöhung des Rüstungsetats in Deutschland.
? Die Türkei bewegt sich in Richtung islamische Diktatur. Sie missachtet die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte. Wie sollte die zukünftige Türkeipolitik aussehen?
! Die Türkei ist für Europa und die Welt ein enorm wichtiges Land. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Zivilgesellschaft und die Opposition in der Türkei stärken. Durch den Druck des Parlaments sind die Bundeswehrsoldasten aus Incirlik abgezogen worden, dass muss bei Konya ebenso passieren. Erdogan wird seine Politik nur verändern, wenn der Druck aus Europa richtig groß wird. Deutschland darf keine Waffen mehr an die Türkei liefern, bis sich die Verhältnisse geändert haben und die Türkei keinen blutigen Krieg gegen die Kurden mehr führt.
? Mit der Türkeipolitik ist die Flüchtlingspolitik verbunden. Kanzlerkandidat Schulz kritisiert seit Kurzem die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und warnt vor Zuständen wie 2015. Verstehen Sie seine Argumentation, die vor einiger Zeit noch völlig anders war?
! Ich bin verwundert, denn Martin Schulz hat in der gesamten Flüchtlingskrise immer wieder betont, der Kurs von Angela Merkel sei richtig. Kurz vor der Wahl stellt er auf einmal fest, der Kurs war eine Katastrophe. Dass verbessert seine Glaubwürdigkeit nicht unbedingt. Allerdings kann Angela Merkel die Sache nicht einfach so weiterlaufen lassen. „Wir schaffen das“ ist ein schöner Satz, aber er hätte heißen müssen: „So schaffen wir das.“
Die Polizei wurde zum Sparschwein der Nation gemacht
? Wie positioniert sich die Linke bei der inneren Sicherheit? Mehr Überwachung, mehr Polizei?
! In den letzten Jahren wurde die Polizei zum Sparschwein der Nation gemacht, und seit Ende der 1990er-Jahre wurden die Dienststellen um 17 000 Beamte reduziert!
? Die Linke will mehr Polizei?
! Mehr Polizei ist nicht typisch links, aber sinnvoll.
? Woher soll das Geld kommen?
! Die schwarze Null von Finanzminister Schäuble hat dazu geführt, dass die innere Sicherheit in Deutschland desolat ist. Deshalb muss hier wieder mehr in Personal und Ausrüstung investiert werden.
? Die letzte Frage ist hypothetisch. Wir bekommen einen sozialdemokratischen Kanzler, die Linke stellt den Wirtschaftsminister und die Grünen den Innenminister. Wie sähe die Politik für Deutschland in diesem Fall aus?
! Kommt die Linke in Regierungsverantwortung, wird es in zentralen Politikfeldern einen Wechsel geben, von dem die Mehrheit der Menschen in Deutschland profitieren wird.
Das Interview führte Bettina Schellong-Lammel-Lammel
Bettina Schellong-Lammel
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